Gebt nicht auf und kämpft laut für eure Rechte

Vorwort

Vor zwei Tagen schrieb Michel Arriens einen offenen Brief  an die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Verena Bentele, sowie etablierten Parteien:

Liebe Behindertenbeauftragte der Bundesregierung – Verena Bentele, liebe SPD, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, DIE LINKE, CSU (Christlich-Soziale Union) & Co.,

ich bin kleinwüchsig und kann nicht laufen. Deshalb fahre ich mit meinem Roller durch die Welt.

Leider wurde mir bei der Bundestagswahl wieder ein nicht barrierefreies Wahllokal zugewiesen. Wie schon bei der Europawahl 2014, bei der ich dann draußen gewählt habe. Wahlgeheimnis? Für mich nicht… 

Ich habe eine Idee: Wir stellen bundesweit barrierefreie Wahlzelte /-container auf öffentlichen Plätzen auf! Mit einem Mal wären alle Wahllokale barrierefrei. 

Das wär‘ doch was: Deutschland würde mit geringem Aufwand einen riesigen Schritt Richtung vollumfänglicher Barrierefreiheit für so viele Personengruppen machen! 

Vor fast 10 Jahren hat sich Deutschland für die lückenlose Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention entschieden. Eine Gesellschaft und eine Regierung, die vollumfängliche Barrierefreiheit fordern, müssen allen Menschen – soweit möglich – die gleichen Optionen bieten. Hier gäbe es eine schnell umsetzbare, kostengünstige und gute Lösung für alle Bürger*innen.

Nicht nur etwa 10 Millionen Menschen mit Behinderung, auch ältere Menschen, die nicht mehr gut zu Fuß sind oder Familien mit Kinderwagen würden Ihnen sehr danken.

Über eine Rückmeldung freue ich mich.

 

Obgleich die Piraten nicht auch gefragt wurden, fragte der Pressesprecher der Piratenpartei nach einer Formulierungshilfe, was wir Piraten dazu sagen könnten.

Nachdem ich aber den Brief von Michel Arriens las, konnte ich mir ein Rant nicht verkneifen; Dieser wurde dann auf fast sofort übernommen und vom offiziellen Account gepostet. Zur Rettung vor dem Datengrab einer geschlossenen Werbeplattform und für alle diejenigen, die es dort nicht lesen wollen, hier eine Kopie.

Es handelt sich einerseits um ein Rant, andererseits um ein Appell:

Gebt nicht auf und kämpft laut für eure Rechte

Hallo Michel,
dein Posting macht mich sauer. Nicht auf dich. Nicht auf Menschen mit Behinderungen. Nicht auf die Situation oder die Gesellschaft. Sondern auf die Politik. Denn es sind nicht nur die 10 Jahre, die seit der UN-Behindertenrechtskonvention vergangen sind.

Im Jahr 2002 wurde das Behindertengleichstellungsgesetz erlassen.
Das ist 15 Jahre her.

Das Gesetz war ein großer Wurf. Es war ein Schatz. Denn es hatte etwas neues festgelegt: Es darf keine „Hintereingänge“ mehr geben. Menschen mit Behinderungen sind rechtlich und gesellschaftlich gleichzustellen. Man darf ihnen nicht einfach irgendwo ein Hintereingang zuweisen, weil man zu faul, zu blöde oder zu knickerig ist, um den normalen Eingang für alle offen zu halten.

Das galt und gilt für die Offline-Welt, wie auch die Online-Welt.

Ich selbst bin seit vielen Jahren auf dem Gebiet tätig. Seit 2001 hab ich ein Auge darauf, dass Webauftritte barrierefrei sind. Hinsichtlich der Einführung der bayrischen Variante der BITV war ich einer von vielen, die das zuständige Ministerium berieten.

Um die Jahrtausendwende waren wir auf einen guten Weg, das gesellschaftlich zu verankern. Die Aktion Mensch, die Stiftung Digitale Chancen und viele andere Player haben es damals unter Initiative und dem großen Engagement des damaligen Behindertenbeauftragten Karl Hermann Haack dazu gebracht, das Thema auch medial und bundesweit bedeutend zu machen. So unter anderem mit dem BIENE-Award, der eben Einsatz in der Sache nicht nur ehrte, sondern auch öffentlich machte.

Es gab und gibt unzählige Studien, die zeigen, dass Barrierefreiheit allen Menschen zugute kommt. Und da braucht man nicht nur mit dem inzwischen alten und längst akzeptierten Beispiel der Niederflurbusse zu kommen, bei dem der volkswirtschaftliche Vorteile durch den Zeitgewinn sogar messbar ist.

Wir in der Szene, wir Webdesigner, Webentwickler, Programmierer, Entscheider, Betroffene und Berater, wir haben damals gegen all die Vorurteile angekämpft, haben sie in der Szene und auch in der Öffentlichkeit widerlegt und ausdiskutiert.

Zurück auf Start

Doch was passierte dann?  Warum wurde das Thema plötzlich unwichtig und nicht mehr vorangetrieben?
Warum können Kommunen wieder mit den Schultern zucken, wenn die es wieder nicht schaffen, Selbstverständlichkeiten umzusetzen?

Ich sehe die Verantwortung dafür ganz deutlich in der Parteipolitik der damaligen und der darauf folgenden Regierungen aus SPD und CDU – gleich welche davon die Regierungsmehrheit einnahm: Nach dem Abschied von Haack wurde die Beauftragung nicht mehr an jemand vergeben, der oder die darin ein Anliegen und Durchsetzungsfähigkeit hatte.

Haack hat -ganz ähnlich wie der ehemalige Bundesdatenschützer Schaar- Grundlagenarbeit geleistet. Er hat den Mief und die Gewohnheiten vielen Kommunen, vieler Behörden und noch mehr von Firmen, die sehr gut mit halbseidenen Aufträgen Geld verdienten, aufgeräumt. Mit dem c, der daraus abgeleiteten BITV für Webseiten und später dem SGB IX wurden die Lippenbekenntnisse pötzlich hinterfragt.
Die bloße Behauptung, man tue ja was man könne, reichte nicht mehr aus!

Und so passierte damals bei dem Behindertenbeauftragten genau das, was später auch beim Bndesdatenschutzbeauftragten passierte: Der Posten wurde an einen gehorsamen Parteisoldaten, bzw. Parteisoldatin vergeben, die oder der sich in der jeweiligen Partei verdient gemacht hatte. Der oder die, das Thema gut präsentieren kann, ab und zu huldvoll winken und Hände schütteln darf, aber ansonsten kein Stress mehr bereitet.
Dies passiert nicht nur auf Bundesebene, sondern auch auf der Ebene der Länder.

Und das ist es, was mich sauer macht.

Wenn wir in andere Länder schauen, sehen wir, dass diese längst viel weiter sind. In den USA würde es kein Unternehmen, keine Behörde auch nur wagen, Menschen mit Behinderungen schlechter zu behandeln. Und wenn eine Behörde etwas bekannt gibt – und seien es die Zeiten der Abfallentsorgung- wird dies stets mit einem Gebärdensprachdolmetscher übersetzt.

Behörden dürfen durch die Section 508 keine Aufträge an Firmen vergeben, die sich nicht auf Brief und Siegel und überprüfbar daran halten, barrierefreie Ergebnisse zu liefern.

Wir sind so weit zurück, weil sich die großen Parteien schamlos der Pöstchen bedienen, um damit ihre Leute zu belohnen.

Aber etwas für die Sache tun? Das tun sie nicht. Stattdessen müssen wir noch drum bitten, ja schon betteln, dass man doch was tun. Das man Gehör findet!

Diese Zustände, die damals schon existierten, die uns Bürger , Betroffene und Engagierte zu Bittsteller machte, während andere nur ihre eigenen Vorteile sahen, machten mich wütend. Und machen mich heute noch wütend.

Unter anderem trat ich auch deswegen vor einigen Jahren bei der Piratenpartei ein, wo ich bis heute aktiv bin.
Doch das Thema kann man nicht allein lösen. Und eine Partei, die es laut Medien nicht geben kann, weil es sie nicht geben darf, kann da nur wenig bewegen.
Dennoch ist Aufgeben keine Lösung. Denn dadurch gehen die Probleme nicht weg.

Und deswegen kann man auch zu recht das sagen, was ich oben tat: Wer heute, 15 Jahre nach dem BGG, noch immer Barrieren hat oder diese bei Veranstaltungen wieder neu aufbaut, der kann dafür keine sachliche Entschuldigung mehr haben.

Die Verantwortlichen wollen entweder nicht, sind also zu faul; sie kennen sich nicht aus und wollen sich obwohl sie zuständig sind, sich auch nicht informieren. Daher kann man sie durchaus als blöd bezeichnen. Oder sie werfen aus Unwissenheit und ohne die Nachhaltigkeit im Blick zu nehmen das Geld an der falschen Stelle zum Fenster raus, haben aber dort kein Ressourcen mehr frei und sind dort zu knickerig, wo es nicht nur nötig, sondern auch berechtigter Anspruch wäre.

Mein Appell ist:

Knick(t) nicht ein. Gebt dich, gebt euch nicht mit Brotkrumen zufrieden in Form eines vielleicht irgendwann eintreffenden Briefes der Zuständigen. Der voller netter Worte und verständnis-triefender Sätze sein wird, der aber am Ende keinerlei Zugeständnisse machen wird. Der am Ende nur ein rhetorisches Schulterzucken sein wird. Das Schreiben des Briefes, welche meist auch durch eine Sekretärin oder einen Referenten erfolgen wird, wird als lästige Pflicht erachtet – für den Fall, dass es in die Medien kommt.

Gebt nicht auf und kämpft laut für eure Rechte.