Barrierefreiheit bei Ausschreibungen des Öffentlichen Dienstes

Mich erreichte unlängst die Frage, wie es um die Berücksichtigung der Barrierefreiheit in den Ausschreibungen des öffentlichen Dienstes steht.
Da ich die Frage in ähnlicher Form und die Thematik auch im eigenen Bereich schon öfters auf den Tisch hatte, möchte ich dazu auch hier darüber schreiben.

Das Thema Barrierefreiheit „überrascht“ leider immer noch viele Projektleiter im Öffentlichen Dienst. Und nicht nur diese, sondern auch manche Agenturen und Dienstleister zeigen sich manchmal verwundert darüber, wenn sie nach der Barrierefreiheit ihrer Lösungen gefragt werden.

Das es einen gesetzlichen Zwang gibt, wird teilweise überhaupt nicht gesehen. Dass die Umsetzung der Barrierefreiheit schon lange zum „Stand der Technik“ gehört, sogar noch weniger.

Wirtschaftlichkeit vs.Barrierefreiheit

So wurde das folgende Szenario erfragt:

Mal angenommen, wir haben drei Anbieter in der näheren Auswahl.
Der dritte Anbieter ist der wirtschaftlichste, jedoch haben die anderen beiden Anbieter einen (wesentlich) höheren Grad der Barrierefreiheit bei ihrer Software vorzuweisen.
Besteht also der Konflikt darin, wie mit solch einer Situation umgegangen wird?

Viele in der Beschaffung wählen in diesem Szenario das scheinbar wirtschaftlichste Angebot.

Was sie dabei jedoch übersehen:

  • Die Einhaltung der Barrierefreiheit ist für den Öffentlichen Dienst eine gesetzliche Verpflichtung. Diese Verpflichtung ist bindend. Eine Einrichtungsleitung oder ein Projektleiter einer Einrichtung des Öffentlichen Dienstes hat streng genommen überhaupt gar keinen Spielraum hier frei zu entscheiden und sich somit über das Gesetz zu stellen. Wenn dies doch geschieht, ist dies nicht zulässig.
  • Ein nicht barrierefreies Angebot benötigt stets zusätzliche alternative Zugangswege. Dieser alternative Weg bestehen in den meisten Fällen nicht in Form von Technik -denn dann hätte man es wahrscheinlich schon von vornherein gemacht, sondern in einen höheren Personalaufwand, in der Form, dass sich jemand um Betroffene kümmern muss.
    Auch dies wäre in der Kostenbetrachtung zu betrachten; Wird aber in der Regel nie gemacht. Und wenn nur gesagt wird, dass der Support, also Menschen dann schon helfen wird, werden auch diese Kosten nicht gesehen, da sie als sogenannte „Eh-da“-Kosten mit Null berechnet werden.

In beiden Fällen, in denen das scheinbar wirtschaftlichere Angebot den Zuschlag erhält, haben wir in Folge also noch mit weiteren, höheren Kosten zu rechnen: Durch Personalaufwände und durch Rechtskosten.

Ein weiterer Aspekt ist auch nicht zu missachten:
Wenn eine Ausschreibung erfolgte, welche die Erfüllung der Barrierefreiheit gemäß der EU Norm forderte, aber dann eine Agentur den Auftrag erhielt, die dieses nicht leistete, kann dies später ebenfalls zu Problemen führen: Handelt es sich bei den Auftrag beispielsweise um die Entwicklung eines Webportals, wird dieses Ergebnis früher oder später ja öffentlich sichtbar sein. Wenn aber dann die in der Ausschreibung unterlegende Wettbewerber mitbekommen, dass ein Konkurrent den Auftrag erhielt, der sich nicht an das vermeintlich „KO“-Kriterium halten musste, kann es zu einer Wettbewerbsklage kommen.

Dies wird zwar in den seltensten Fällen tatsächlich passieren, jedoch ist dieses Risiko nicht ganz ausgeschlossen. Bei einem Auftragsvolumen unter 50.000 Euro werden viele kleinere Agenturen, die keinen eigenen Rechtsbeistand haben, sicherlich keine Klage einreichen.
Große Webprojekte, bei denen Webauftritte auch über eine gewisse Reichweite und Prominenz verfügen, werden jedoch bei einem Auftragsvolumen über 100.000 Euro liegen. In solchen Fällen haben Wettbewerber oft auch mehr Investitionen in ihre Offerte gesteckt. Hier ist das Risiko, dass ein unterlegender Wettbewerber das Ergebnis nicht auf sich sitzen läßt, höher.

Prüfung und Nachweis

Eine weiter Frage betrifft die wer eigentlich die Barrierefreiheit eines Produktes nachweisen muss oder prüft:

Müssen Anbieter die Barrierefreiheit und deren Grad zertifiziert nachweisen?
Demnach müssen wir als Auftraggeber ausschließlich die Nachweise überprüfen und nicht bzw. nur auf freiwilliger Basis die Barrierefreiheit der Software per Test selbst überprüfen, falls es überhaupt möglich ist.

Zur Antwort hilft es zu schauen, welche Verpflichtungen für die Einrichtung im Öffentlichen Dienst vorliegen:

Die Einrichtung muss auf der Website einen zusätzlichen Rechtstext neben Impressum und Datenschutz anbieten, nämlich die Barrierefreiheitserklärung.

Was muss die Barrierefreiheitserklärung enthalten?

In der Barrierefreiheitserklärung müssen folgende Punkte verpflichtend aufgeführt werden:

  • Stand der Vereinbarkeit mit den Anforderungen
  • Nicht barrierefreie Inhalte (sofern vorhanden)
  • Angaben zur Erstellung der Barrierefreiheitserklärung
  • Feedback und Kontaktangaben
  • Durchsetzungsverfahren

In der Beschreibung der nicht barrierefreie Inhalte sollten die Mängel in drei Teilen beschrieben werden:

  1. Um welchen Mangel gemäß WCAG handelt es sich?
  2. Warum konnte dieser Mangel nicht behoben werden?
  3. Welche Alternativen es gibt, trotz dem Mangel auf die Inhalte zu gelangen?

Bei Feedback und Kontaktangaben wird angegeben, an wen man sich wenden kann (und zwar in Form eines barrierefreien Feedback-Verfahrens) wenn Mängel vorliegen. Und für den Fall, dass keine zufriedenstellende Hilfe erfolgt muss die Kontaktadresse der jeweiligen Aufsichtsbehörde angegeben werden.

In der Barrierefreiheitserklärung ist auch das Datum des Tests anzugeben und wie dieser Test erfolgte (z.B. Selbstbewertung oder Prüfung durch eine Agentur).

Kurz gesagt: Die Barrierefreiheitserklärung stellt eine Art Offenbarungseid dar, in der ein Betreiber eines Webangebots genau darlegen muss, wo er in der Umsetzung versagt hat. Und er muss erklären wieso er das tat.

Eine Seite in der unter dem Titel Barrierefreiheitserklärung lediglich ein Absatz folgt, dass man sich bemühen die Barrierefreiheit einzuhalten, ist hingegen keine gültige Erklärung.

Eine ausführliche Mustererklärung der Europäischen Kommission inklusiver aller fakultativer Inhalte ist im Durchführungsbeschluss (EU) 2018/1523 im Abschnitt „Anhang“ zu finden.

Wer sollte den Test auf Barrierefreiheit machen?

Wenn eine Agentur nun in Rahmen einer Ausschreibung etwas liefert, kann ein Auftraggeber daher natürlich verlangen oder zum Teil der Verhandlung machen, dass die Agentur den Test selbst durchführt und die Ergebnisse bereit stellt.
Doch ob die Agentur sich selbst und seine Produkte objektiv bewertet, ist fraglich.

Ich würde bei Verhandlungen zu via Ausschreibung erlangter Webauftritte und Websoftware stattdessen empfehlen, die Prüfung extern vornehmen zu lassen. Hierzu bieten sich Anbieter und Agenturen an, die eine Projektbegleitung mit Tests anbieten oder solche, die ausweislich WCAG-Tests machen.
Der projektausführenden Agentur würde ich dabei jedoch deutlich und vor Auftragsvergabe (u.a. als Teil der Projektbeschreibung in der Ausschreibung) mitteilen, dass eine Prüfung erfolgen wird und gefundene Probleme als Produkt- und Sachmangel gesehen werden können, die von der Agentur gemäß BGB §434 behoben werden müssen: Das positive Ergebnis der Prüfung ist Gegenstand der Abnahme.
Können Mängel hingegen trotz allem Bemühen nicht behoben werden, müssen diese, wie oben erläutert, in der Barrierefreiheitserklärung aufgelistet werden. Die Agentur muss in dem Fall akzeptieren, daß die Gründe in der Erklärung veröffentlicht werden. Unter Umständen auch mit Nennung des Namens der Agentur.

All dies sollte man klar und offen in der Ausschreibung und bei dem Kontakt mit interessierten Agenturen kommunizieren.

Diese Information signalisiert der Agentur zwei Dinge:

  1. Das Thema wird ernst genommen.
  2. Es wird der Agentur schwerer fallen, eine mangelnde Umsetzung durch Socialising mit dem oder der Chefin zu kompensieren. Dazu unten mehr.

Der Test auf Barrierefreiheit muss sich stets nach der aktuellen EU-Norm richten. Bei heutigen Webauftritten im Wesentlichen also die Vorgabe des WCAG-Standards in der Version 2.1. Einrichtungen des Öffentlichen Dienstes müssen bei normalen Seiten die Stufe AA erfüllen, bei interaktiven Seiten muss sogar die Stufe AAA erfüllt werden.

Die alten Tests und Testverfahren zu der BITV 1 sind nicht mehr gültig. Ebenso sind Zertifikate, welche auf Basis der vorherigen Testverfahren entstanden, als nicht relevant zu sehen.

Haben Sie evtl. Erfahrungswerte, wie in der Praxis damit umgegangen wird?

Es ist kompliziert.
Nicht wegen der Technik, diese ist längst beherrschbar und wurde ja auch 2016 zum Industriestandard erhoben.
Das Problem ist vielmehr menschlicher Natur:

Es kommt auf die Projektleiter an. Einige Projektleiter haben die gesetzlichen Verpflichtungen zur Barrierefreiheit noch nicht verstanden und/oder sehen diese als Verhandlungsfähig oder lästig an. Auch lassen sich viele Projektleiter, insbesondere jene, die IT-fern sind, von gut geschulten Verkäufern überzeugen, dass ein Produkt ja das einzige sei, welches eine Lösung böte und dass so wie es gemacht sei, nicht anders ginge.
Ich kenne sehr viele Projekte, in der nicht barrierefreie Lösungen so beschafft wurden. Nachdem dies geschah fällt es vielen Projektleiter jedoch schwer, die Mängel zuzugeben und/oder die Behebung der Mängel bei der Agentur einzufordern.
Gerade aus diesem Grund ist eine Prüfung des Produkts vor Abnahme und vor Abschlusszahlung durch einen Experten notwendig.

Barrierefreiheit in der Ausschreibung

Bei meinen Arbeitgeber nutzen wir bei europäischen Ausschreibungen das eVergabe-System. Hierin kann man „KO“-Kriterien zu Ausschreibungen festlegen. Dies haben wir getan:

Alle Ausschreibungen der Bereiche

  • Webauftritte
  • Webapps und Webanwendungen
  • Erzeugnisse aus digitalen Büroanwendungen (u.a. Office, Adobe u.a.)
  • Design

erhalten im eVergabe-Portal folgendes „KO“-Kriterium, welches zu erfüllen ist:

„Konformität gemäß aktueller der BayEGovV (Umsetzung der EN 301 549 in der aktuell gültigen Fassung durch die Erfüllung der WCAG ab der Version 2.1 ab Stufe AA für normale Inhaltsseiten und Stufe AAA für Seiten mit Formulare).“

(Der Bezug auf die BayEGovV gilt natürlich nur für Ausschreibungen von Einrichtungen in Bayern. Für Einrichtungen anderer Länder muss man hier natürlich den Bezug auf die jeweils eigene Landesverordnung angeben).

Die unschönen Szenarien

Auch bei den besten Absichten, kann einiges schief gehen. Zwei häufige Ursachen und Szenarien mit durchaus realen Hintergrund, beschreibe ich im folgenden.

Socialising statt Kompetenz

Machen wir uns nichts vor: Socialising ist ein häufig genutztes Mittel grösserer Agenturen.
Einige Agenturen perfektionieren die Ansprache ihres Kunden so weit, dass sie im Rahmen der Projektaquise auch gezielt ihren eigenen Consultant nach dem Geschlecht des Entscheidungsträgers auf Kundenseite auswählen.

Folgende Anzeichen für entsprechende Agenturen sollten die Alarmglocken läuten lassen:

  • Die Agentur kommuniziert nur über einen Consultant oder dem sehr angenehm und freundlich sprechenden Geschäftsführer. Und zwar primär mit der Einrichtungsleitung. Gern im direkten Kontakt.
  • Die eigentlichen Entwickler in der Agentur sind und bleiben unsichtbar. Und können auch nicht direkt angesprochen werden.
  • Der Consultant vermeidet den Kontakt zu IT-Fachpersonal beim Kunden. Auch zu dortigen Projektleitern. In mehr als einem Fall werden IT-Fachleute vor Ort „aus Versehen“ bei der Kommunikation vergessen.

Geht nicht? Gibt es Nicht!

Eine letzte Problemstellung, bzw. eine Behauptung kommt ebenfalls oft herein:

Wir würden ja gern die Barrierefreiheit berücksichtigen. Das Produkt der Firma…  ist jedoch die einzige Lösung dazu auf dem Markt und es gibt keine Alternative. Da können wir leider nichts machen…

Hier ist die Antwort einfach: Das ist eine Lüge. 

Es gibt kein Problem aus der IT, gerade im Bereich von Webangeboten, zu dem es keine vergleichbare Alternative gibt oder bei dem das Problem nicht über eine Auftragsentwicklung gelöst werden könnte.

Falls ein Projektleiter diese Behauptung aufstellt, verfügt dieser entweder nicht über die notwendigen IT Kompetenzen um Alternativen zu finden oder er hat schlicht keine Lust dazu.