Barrierefreiheit – Freiheit für Alle

Vor kurzem startete eine vierwöchige Accessibility Blog Parade. Initiiert und gestartet wurde die Aktion gemeinsam vom MAIN_blog und Robert Lender.
Banner zur Blogparade

Vorwort

Mit diesem Beitrag möchte ich ebenfalls eine Meinung zu diesen doch recht weiten Thema einbringen.
Im Gegensatz zu vielen anderen Experten möchte ich jedoch keinen weiteren Artikel schreiben, in dem schon wieder erklärt wird, was Barrierefreiheit im Internet bedeutet. Oder gar, welche Vorteile sich daraus sowohl im Sinne der gleichberechtigten Teilhabe von Benutzern und für die Wirtschaftlichkeit der Betreibern ergeben.
Jan Eric hat hierzu auch bereits einen sehr schönen Artikel „Sinn für Barrierefreiheit“ geschrieben, der viele Grundlagen bereits auf den Punkt bringt.
Des weiteren gibt es hierzu bereits viele Tutorials und auf das Thema spezialisierte Webauftritte.

Barrierefreiheit ist für alle da

Ich möchte jedoch einen anderen Aspekt über Barrierefreiheit im Internet einbringen: Die Netzkultur – Welchen Einfluß hat das barrierefreie Internet auf die Art und Weise wie wir das Netz nutzen, wahrnehmen und wie wir uns darin einbringen.

Barrierefreies Internet hat meines Erachtens eine größere Auswirkung auf die Art und Weise wie das Netz genutzt wird, als vielen bislang deutlich geworden ist.
Jan Eric betont, daß bei der barrierefreien Gestaltung Mensch mit einer Behinderung stets im Vordergrund steht.
Geht es um die reinen Formalismen der BITV, der WCAG und anderer Verordnungen, dann stimmt dies auch so.
Diese Verordnungen und Richtlinien wurden im wesentlichen mit dem Ziel gemacht, Menschen mit Behinderungen die gleichberechtigte Teilnahme am Netz zu ermöglichen.

Aber warum sollten wir dabei bleiben und nicht mehr anstreben?
Denn ginge es allein darum, was in einer Richtlinie definiert wurde, und nicht darum, was daraus erwächst, so verschließen wir uns selbst möglichen Chancen und Verbesserungen.
Das Internet ist auch längst auch mehr als ein redundantes Netz, welches im Falle eines Weltkrieges militärischen Stellen die Möglichkeit zur Kommunikation erhalten sollte.

Auf dem Webkongress Erlangen 2006 rief Dr. Polzin, der ehem. Leiter des Arbeitsstabs der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, dem Podium zu:
Barrierefreiheit ist für alle

In seiner Rede machte er deutlich, daß er die Barrierefreiheit als etwas sehen möchte, was eben keine Speziallösung für Behinderte ist, sondern etwas, was für alle gut ist.
Barrierefreies Internet sollte als Selbstverständlichkeit gesehen werden. Und nicht etwa als etwas wo allein Behinderte im Mittelpunkt zu stellen sind.

Mich erinnert dies stark an die Emanzipation in der Frauenbewegung. Folgendes Zitat stammt von einer bekannten Frauenrechtlerin: Erst wenn niemand mehr über die Gleichberechtigung der Frau spricht, haben wir diese erreicht.
In Bezug auf die Barrierefreiheit im Internet sollte die ideale Situation genauso aussehen: Wir sollten nicht mehr darüber reden müssen, ob und warum wir Barrierefreiheit erreichen wollen. Ebenso sollten wir es vermeiden, Menschen einzuteilen in einer der zwei Kategorien, „Behindert“ oder „nicht Behindert“.
Barrierefreies Internet sollte selbstverständlich sein.

Da ich Jan Eric kenne, glaub ich nicht das er Menschen in diese beiden Schubladen einsortiert, wenn er betont, daß Menschen mit Behinderungen in den Vordergrund stellt. Die Gefahr, daß einige bei oberflächlicher Beschäftigung mit dem Thema es so verstehen und dann daher Barrierefreiheit im Internet als reine sozialpolitische Sache ansehen ist jedoch gegeben.

Zudem: Jede Einteilung in Behindert oder nicht Behindert scheitert allein an der Definition. Wer ist Behindert und wer nicht? Ist man nur deswegen behindert, weil man ein körperliches oder geistiges Gebrechen hat? Oder ist man auch behindert, wenn man durch äußere Umstände, wie Technik, Sprache, Kultur, Politik, sozialer Hintergrund, Armut, von der gleichberechtigten Teilhabe an Informationen ausgeschlossen ist?
Ich kenne viele körperlich behinderte Menschen, die weit freier in Ihrem Tun und Denken sind, als viele vermeintlich nicht Behinderte.

Freiheit

Barrierefreies Internet bedeutet im wesentlichen den gleichberechtigten und allgemein nutzbaren Zugang für alle. Das sehe ich als unabhängig von Behinderung, Software, Sprache, Technik, sozialen Umfeld und äußere Umstände.

Welche Konsequenzen ergeben sich hieraus auf die Art wie man das Internet nutzt?

Wenn der Zugang zu Inhalten einer Webseiten unabhängig von all den genannten Dingen ist, dann liegt es allein auf Seiten des Nutzerns, wie er diese betrachten oder verarbeiten möchte. Der Nutzer hat hier die volle Freiheit.
Der Betreiber einer Website kann -sofern er nicht gezielt Barrieren aufbaut- keinen Einfluß darauf nehmen, wie die Seite genutzt wird. Wobei auch das Wort „Webseite“ hinfällig wird. Die Webseite wird wieder reduziert auf eine Sammlung aus Inhalt und dazugehörigen medialen verknüpfungen.
(Das einzige was als Einflußnahme bleibt ist die Art der Lizensierung der Inhalte.)

Viele werden beim Lesen dieser Sätze vielleicht sagen „Na und?“ und sich fragen worauf zum Geier ich eigentlich hinaus will.
Ich erläutere es in folgenden Aufbaustufen:

Stufe 1: Freie Wahl des Ausgabemediums nach Vorgabe durch Betreiber

Wenn jeder die freie eigene Wahl der Software und der Zugriffsmöglichkeit hat, dann gilt dies natürlich auch dafür, wie eine Software die Seite wiedergibt. Üblicherweise gibt es bei einer barrierefreien Website mindestens 3 Ausgabemedien: Screen, Print und Aural (für Screenreader). Mit den Aufkommen vieler internetfähiger Handys kommt auch das Ausgabemedium Handheld hinzu.

Die Freiheit der Software ermöglicht es den Benutzer also bei einer barrierefreien Website jetzt bereits zwischen diesen Ausgabemedien zu wählen. Der Betreiber der Website hat darauf kaum Einfluß.
Der Betreiber der Site gibt jedoch die CSS-Dateien für die Medien vor. Somit kann er dann doch für jedes Medium bestimmen wie die Darstellung erfolgen soll.

Diese Stufe ist bei barrierefreien Websites in der Regel bereits erfüllt.

Stufe 2: Filterung von bekannten Inhalten

Barrierefreie Webseiten zeichnen sich durch ein meist gut strukturiertes und standardkonformes Markup aus.
Somit sind fast alle Teile der Webseite logisch ansteuerbar.
Längst gibt es für verschiedene Internetbrowser Erweiterungen mit deren Hilfe Werbung weggefiltert werden kann. Sogenannte AdBlocker. Beruhten diese aber bisher meist darauf, den Inhalt nach Bildern in einer bestimmten Auflösung zu durchsuchen und diese zu löschen oder Einbindungen von bekannten Bannerservern zu unterbinden, ist das Filtern von ungewollten Content heutzutage bei barrierefreien Websites leichter geworden: Im einfachsten Fall muss allein die für die Gestaltung der Werbung verwendete CSS-Anweisung gefunden und modifiziert werden.

Beispiel Portal von T-Online:

<div id="ankx0"><table border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" width="100%">
   <tr><td><a href="javascript:oW('http://clkde.tradedoubler.com/click?p=50586&a=127690...);"
   onclick="S('6uw54','6t7dm',1,2)"><img border="0" src="/t.gif" width="625" alt="Telekom-Vorteil" height="30"
   title="Telekom-Vorteil" id="anki0" /></a></td><td valign="top" width="100%"><div class="oa"><div
   class="ts"></div>
   </div></td></tr></table>
</div>

Hier würde ein einfacher Bannerfilter also lediglich die CSS-Anweisung

  div#ankkx9 { display: none; }

einführen und weg wäre der ungeliebte Bereich.

Kurz gesagt: Wenn Webauftritte über eine semantische sinnvolle Strukturierung verfügen, bei dem Inhalte und Layout ordentlich getrennt sind, dann ist die Analyse der Site einfacher. Ist die Analyse einfacher, fallen auch viele Probleme bei der Interpretation und Filterung von Inhalten weg.

Es gibt bereits jetzt viele fertige Software-Erweiterungen für gängige Browser, die dies erledigen.
Der Benutzer braucht dazu keine Kenntnisse in HTML oder CSS. Und man braucht auch die fehleranfälligen alten Softwarelösungen nicht mehr, die beispielsweise nur auf die Bildgröße (468×60 Pixel) oder die URL (http://bekannnter.adserver.de) schauten.

Wir haben also auch diese Stufe in weiten Teilen bereits erreicht. (Verbesserungen und Vereinheitlichungen sind jedoch noch notwendig).

Neben der rein optischen Modifikation von Inhalten einer Webseite gibt es weitere Ansätze, bei denen Teile des Inhalts so interpretiert werden, daß sie für andere Anwendungen genutzt werden können. So zum Beispiel können Adressangeben in einer Seite mit Hilfe von Mikroformaten strukturiert werden. Diese Strukturierung sorgt dafür, daß entsprechende Tools auf die Angaben zugreifen und sie für weitere Zwecke nutzen können.

Ebenfalls wichtig ist die leichtere Weiternutzung und Portierung von Inhalten. Stichwort: Content-Syndication.

Stufe 3: Freiheit der Darstellung beliebiger Inhalte unabhängig vom Betreiber

Beim vorherigen Schritt ging es lediglich darum, einzelne Inhalte zu erkennen und dann ihre Darstellung zu beeinflussen.
Wenn man einzelne Teile einer Seite erkennen und interpretieren kann, dann auch den Rest. Was spricht also dagegen, die Gestaltung einer Website durch eine eigene zu ersetzen?
Antwort: Nichts.
(Außer vielleicht die Neugier auf was neues, ein fähiger Design der wirklich geiles zaubert oder das man verschiedenen Webauftritte auch optisch unterscheiden möchte. Aber dies wäre dann die freie Wahl des Surfers – will ich mein Design haben oder nehm ich das des Betreibers? Ist das Design des Betreibers gut genug für mich?).

Auch hierzu gibt es bereits Lösungen. So gibt es für den Firefox die Erweiterung Stylisch, mit dessen Hilfe man CSS-Anweisungen für beliebe Webauftritte hinterlegen kann. Diese CSS-Anweisungen können auch aus einem allgemein zugänglichen Katalog geladen werden.

Üblicherweise kommt an dieser Stelle irgendjemand mit dem Gegenargument: Aber das ist doch nur was für Informatiker. Normale Leute wissen garnicht das sowas geht und können das sowieso nicht bedienen. Das ist viel zu kompliziert..

Aber wenn ich sehe, wie viele Menschen mit den simplen Formatvorlagen in den gängigen Officeprogrammen klar kommen und mal eben schnell einen unformatierten Text auf einen „eleganten Brief“ umsetzen, dann glaub ich nicht an das Argument.
Eher glaub ich an die Frage der Usability: Wenn die entsprechenden Funktionen nur benutzerfreundlich und intuitiv genug sind, dann wird sie jeder nutzen können.

(Es gäbe jetzt theoretisch noch weitere Ausbaustufen. Diese beziehen sich aber kaum noch auf technische Aspekte, sondern gehen noch weiter in andere Richtung. Zum Beispiel bei der Frage, wie wir zukünftig mit der Nutzung von Inhalten verfahren werden. Urheberrechte, Lizenzen etc pp.)

Zusammenfassung

Barrierefreies Internet hat das primäre Ziel Menschen mit Behinderungen die gleichberechtigte Teilhabe am Internet zu ermöglichen.
Barrierefreies Internet bietet jedoch eine Grundlage zu einigen zukünftigen Trends und Entwicklungen, die uns allen größere persönliche Freiheiten und eine bessere Benutzerfreundlichkeit ermöglichen. Einige dieser Entwicklungen werfen jetzt schon ihre Schatten vorraus.

Die Summe dieser Entwicklungen kann starken Einfluß darauf nehmen, wie das Internet genutzt wird und wie Inhalte -aufgrund ihrer besseren Portierbarkeit- verbreitet werden können. Die Abhängigkeit von der Technik eines Betreibers oder einer Softwarefirma sinken, während gleichzeitig gute und originäre Inhalte an Wert gewinnen.

Qualitätsoffensive durch barrierefreies Internet

Ein weitere Aspekt auf den ich oben wenig eingegangen bin, ist die steigende Qualität von Webauftritten:
Barrierefreies Internet und der Bedarf danach führte bereits merklich zu einer Qualitätsoffensive. Und dies nicht allein bei Webauftritten die zur Barrierefreiheit (und das zu Recht!) gezwungen sind.
Das eine Site gut oder schlecht geworden ist, kann inzwischen anhand von Kriterien (z.B. der BITV) oder Standards weitgehend unangreifbar geprüft werden. Wenn eine Agentur für ausgewiesenen Schrott Millionen verlangt, dann hat man nun auch was, mit dem man den markigen Einwickelsprüchen eines Hochglanz-Consultant kontern kann.
Für moderne, professionelle Webauftritte reicht es nicht mehr, daß ein Chef von einer Agentur beschwatzt wird. Dank den Ansprüchen und Standards aus der Barrierefreiheit braucht es heute mehr.

Und das ist gut für alle!

3 Kommentare zu “Barrierefreiheit – Freiheit für Alle

Kommentarfunktion ist geschlossen.

  1. In der Tat sind WebSites mit diskriminierenden Links like „Klicken Sie hier für eine behindertengerechte Seite“ vielerorts verschwunden von der Weboberfläche.

    So stelle ich das erfreulicherweise auf meinen jüngsten Wanderungen durch das Internet fest.

    Allerdings gibt es eine Sache, die mein Gemüt immer wieder bis zur Weißglut bringt: Ausgedruckte Seiten, auf denen die Hälfte fehlt, wo dann eine Wiederholung des Drucks im Querformat halbwegs Abhelfe schafft.

    Oft jedoch hilft ein Druck im Querformat auch nicht, bei manchen Seiten. Ja, es gibt Seiten, da ist nach dem Drucken nur das LOGO zu sehen, sonst nichts…

    Wie auch immer, solange die Druckvorschau (Seitenansicht) diverser Browser immer noch in den Kinderschuhen steckt, sollten sich Webautoren wenigstens die Mühe machen, ihre Kunstwerke auch einmal ausgedruckt kritisch zu betrachten.

    Und wenns denn unbedingt sein muss, dass eine Seite im Browser anders aussehen muss als auf A4 gedruckt, dann her mit einer extra Seite, die auf A4 passt.

    Also manche Webdesigner sollten sich echt mal nen Kopp darüber machen, dass nicht jeder einen Plotter hat ;-)

    Ernst

  2. Da hat der gute Dr. Polzin aber leider unrecht, bzw. er kennt offensichtlich seine eigenen Verordnungen bzw. deren Grundlagen nicht. Hier nochmal zum nachlesen:

    Web Content Accessibility Guidelines 1.0, Einleitung, erster Satz: These guidelines explain how to make Web content accessible to people with disabilities.

    Deutsche Übersetzung (Zugänglichkeitsrichtlinien für Web-Inhalte 1.0): Diese Richtlinien erläutern, wie Web-Inhalte für Behinderte zugänglich gemacht werden können.

    Web Content Accessibility Guidelines Impact Matrix, durch die WCAG berücksichtigte Behinderungsformen (»Summary of Disabilities Considered«): Visual Disabilities, Hearing disabilities, Cognitive, learning, and language disabilities, Physical disabilities, Photo sensitive epilepsy.

    Begründung zur »Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz (BITV)«, Satz 1: Die Verordnung wird aufgrund des § 11 des Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur Änderung anderer Gesetze (Behindertengleichstellungsgesetz) erlassen.

    Ibid., IV. 4.: Die Vorschrift übernimmt zur Festlegung des persönlichen Geltungsbereiches die Vorgaben des § 3 Behindertengleichstellungsgesetz. (zum Nachlesen: §3 BGG)

    Web Content Accessibility Guidelines 2.0, Einleitung, erster Satz: Web Content Accessibility Guidelines 2.0 (WCAG 2.0) covers a wide range of recommendations for making Web content more accessible. Following these guidelines will make content accessible to a wider range of people with disabilities, including blindness and low vision, deafness and hearing loss, learning disabilities, cognitive limitations, limited movement, speech difficulties, photosensitivity and combinations of these.

    Web Content Accessibility Guidelines Working Group (WCAG WG) Charter, Punkt 1. Mission, erster Satz: The mission of the Web Content Accessibility Guidelines Working Group (WCAG WG) is to develop guidelines to make Web content accessible for people with disabilities.

    HTML-Arbeitsgruppe des W3C, HTML Design Principles, Punkt 5.3. Accessibility: Design features to be accessible to users with disabilities.

    HTML 4.01 Specification, Abstract, Satz 2: In addition […], HTML 4 supports […] documents that are more accessible to users with disabilities.

    HTML 4.01-Spezifikation (Deutsche Übersetzung): Zusätzlich […] unterstützt HTML 4 […] zugänglichere Dokumente für behinderte Benutzer.

    Fazit:

    Ich kann beim besten Willen keine Textstelle finden, in der Barrierefreiheit als irgendetwas anderes definiert wird als die Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderung.

  3. Wie vorhin schon im Chat geschrieben: Ich widerspreche deinem Fazit gar nicht.
    Ich sehe aber durch die Umsetzung von barrierefreien Websites sehr viele Chancen, die weit über das hinaus gehen was die Barrierefreiheit eigentlich bezwekcnen sollte.