Falsifikation der Barrierefreiheit

Immer mehr Agenturen und Internetfirmen werben damit, daß die von Ihnen erstellten Webauftritte barrierefrei sind. Sehr oft kommt es jedoch vor, daß schon wenige oberflächliche Tests das Gegenteil zeigen.

Eine Ursache hierfür liegt darin, daß viele Auftraggeber weder die Kompetenz noch die Zeit haben um feststellen zu können, ob das Versprechen der Agentur wirklich erfüllt wurde. Und selbst für den Fall, daß nachträglich festgestellt wird (zum Beispiel durch negatives Benutzerfeedback), daß da etwas nicht stimmt, wird es oft eher hingenommen oder ignoriert – man möchte sich ja keine Blöße geben.
Und mal ernsthaft: Wer hat wirklich einmal alle Prüfpunkte des sogenannten BITV Kurztests durchgeackert? Allein die Bezeichnung Kurztest ist ja schon ein Witz.

Wir als Experten können sicherlich (-und mit guten Recht: Weil wir echte Kompetenz haben und weil man gegen die Verwässerung des Begriffs vorgehen muss und es noch immer das Recht auf freie Meinungsäußerung gibt-) vollmundige Pressemeldungen, wie die über den BITKOM-Webauftritt auseinandernehmen.
Aber können wir erwarten, daß jeder Auftraggeber und irgendwelche unterbezahlten Angestellten aus dem öffentlichen Dienst, wirklich genau wissen,
welche Dinge wie geprüft werden müssem?
Können wir überhaupt vorraussetzen, daß allein die BITV Checklisten bekannt sein müssen? Kann man wirklich erwarten, daß der Begriff der Validierung im Kontext von Webauftritten bekannt ist?

Nein.
Es muss etwas einfacheres geben.

Bevor es jetzt jedoch auf den Holzweg geht: Nein, kein Zertifikat und kein Bapperl. Dies ist ein Irrweg, der nur dazu führt, daß wenige Agenturen noch mehr Geld verdienen und weniger Konkurrenz haben, potentielle Auftraggeber unnötig mehr Geld für denselben Müll ausgeben müssen und berechtigte Kritik mit Hinweis auf ein Zertifikat abgeblockt wird.

Mein Vorschlag ist die Einführung und Nutzung der Technik der Falsifikation.

Die Hintergrundgedanke dabei ist, daß es überaus aufwendig ist, festzustellen und zu testen, wie sehr eine Website das (unerreichbare) Ideal der Barrierefreiheit erfüllt.
Warum also nicht das Gegenteil machen:
Legen wir doch einfach nur einige wenige Punkte fest, die erfüllt sein müssen um ganz sicher behaupten zu können, daß eine Website nicht barrierefrei ist!

Oder um es nach Popper zu sagen:
Sei t = „Alle Seiten der Website sind barrierefrei.“ und die Randbedingung r = „Die Startseite ist barrierefrei“. Es folgt dann die Prognose p = „Die gesamte Website ist Barrierefrei“. Wird nun der Basissatz b = „Aber das Kontaktformular kann nur mit dem Internetexplorer aufgerufen werden und ist daher nicht ohne Barrieren für andere Benutzer“ als wahr festgesetzt, so folgt die Falschheit der Prognose p.

Da ist es schlichtweg egal, wo und wie aufwendig oder wie komplex (oder einfach) eine Website ist. Wenn ein einziger der Punkte zutrifft, ist die Behauptung das die Website Barrierefrei sei, widerlegt.
Wichtig bei diesen Punkten ist nur eine Rahmenbedingung: Jeder muss diese Testpunkte verstehen und leicht nachprüfen können. Es muss einfach für alle sein, eine Webseite -wenigstens rudimentär- zu testen!

Wie könnten also ein paar wenige Testpunkte aussehen, mit denen sich eine Behauptung („Prognose p“) abprüfen lassen? Und zwar solche Punkte, die keinerlei Vorwissen in Webtechniken benötigen? Prüfpunkte, die vom jungen Bäckerlehrling bis zum Großmütterchen über den karteikartenverliebten, leitenden Abteilungsleiter jeder nachprüfen kann?

Ich schlage folgende Punkte vor:

  • Wenn ich die Schriftgröße mit meinen Browserfunktionen ändere, kann ich Teile des Inhalts nicht mehr lesen
  • Obwohl ich ein webfähiges Handy habe, kann ich damit die Inhalte nicht lesen.
  • Ich muss zwingend eine Maus haben um den Webauftritt bedienen zu können. Wenn ich es alleine mit der Tastatur versuche, kann ich nicht alle Funktionen nutzen und auch nicht alle Seiten aufrufen.
  • Wenn ich irgendwann eine neues Aussehen für den Webauftritt haben möchte, muss ich in jede einzelnen Webseite ändern lassen und hab einen vergleichsbaren Aufwand wie beim aktuellen Um- oder Neubau. (Diese Frage ist nur für Betreiber/Auftraggeber)
  • Wenn ich Fragen zum Inhalt einer Seite habe, hab ich keine eigene Auswahl bei der Art der Kontaktaufnahme.
  • Es gibt Bilder oder optische Darstellungen auf einer Webseite, die mir unverständlich sind und die auch nicht in einem Text erläutert werden
  • Ich kann bei einem Link nicht erkennen, wohin der mich führt.
  • Wenn ich die Seiten aufrufe, wird ohne mein Zutun die Größe oder die Position von meinem Programmfenster geändert oder es werden neue Fenster aufgebaut.

Es ist egal welcher Punkt es ist. Wird ein einziger Punkt dieser Fragen mit „Ja“ beantwortet ist die getestete Webseite nicht barrierefrei.

Warum gerade obige Punkte?
Hinter jeden dieser Punkt steckt natürlich viel mehr als es oberflächlich erscheint. Beispielsweise bei der Frage nach der Nutzbarkeit mit dem Handy: Wenn ein derzeit übliches Handys nicht in der Lage ist die Inhalte zu lesen, ist es sehr wahrscheinlich auch ein Screenreader nicht. Den Test mit einem Screenreader kann aber nur jemand machen, der einen solchen hat. Das sind dann aber wieder nur wenige Leute. Ein Handy dagegen hat fast jeder. Ebenso wird durch diese Frage implizit geprüft, ob die Seite auch für kleine Bildschirme skaliert, ob der übertragende Code hinreichend standardkonform ist und ob man den Webauftritt auch ohne viele üblichen Webtechniken (wie z.B. Flash oder Java) nutzen kann.

Natürlich hat dieses Vorgehen ein Manko: Man kann nicht beweisen, daß ein Webauftritt barrierefrei ist.
Aber das macht nichts, denn dieser Beweis ist ohnehin unmöglich.
Wenn alle obigen Punkte mit „Nein“ beantwortet wurden, heißt es auch nicht, daß die Webseite barrierefrei ist. Es bedeutet lediglich, daß die gröbsten Hürden nicht erkennbar sind.

Will man wirklich eine genaue Aussage darüber treffen, wie gut eine Website wirklich ist, muss Expertenwissen her.
Genauso wie beim Auto kann jeder mit Führerschein dieses bedienen und nutzen. Kleine Kinder haben die Regeln des Strassenverkehrs gelernt und wissen, daß Autos auf der Strasse fahren.
Aber weder müssen Autofahrer wissen, wie der Motor funktioniert und was beim ABS technisch passiert, noch müssen Kinder wissen, wie die elektronischen Schaltkreise bei einer Fussgängerampel gesteuert werden.

Das Expertenwissen und auch etwaige vollständige Tests auf Barrierefreiheit wird benötigt bei der Aussage wie zugänglich eine Website für verschiedene Benutzergruppen sein kann.
Die Aussage jedoch, daß etwas nicht klappt, kann und soll jedes Kind treffen können.