Barrierefreiheit = Behindertengerecht. Es ist nicht aus den Köpfen zu kriegen!

Erfahrene IT-Entwickler, Gestalter von professionellen Websites und gut informierte Internetbeauftragte wissen, daß mit dem Begriff der Barrierefreiheit im Internet viele Aspekte verbunden sind. Diese kann man am einfachsten zusammenfassen mit dem Satz: Benutzbar und zugänglich für alle.
Oder, in Anlehnung an dem Projekt der Aktion Mensch: Einfach für alle.
Mit diesen Aspekten sind natürlich auch viele andere Dinge und Themen eng verbunden, die sich teilweise überschneiden, teilweise gegenseitig befruchten.
So die Themen der Nachhaltigkeit, der Wirtschaftlichkeit, der Standardisierbarkeit und natürlich auch der Usability.

Leider nur, ist in den Köpfen der meisten Leute immer noch die simple und genauso naive Formel:

Barrierefreiheit = Behindertenfreundlichkeit

Diese Formel ist, eben weil sie so einfach ist, gängig und wird gemerkt. Die Formel verlangt kein nachdenken, sie sagt alles was zählt.

Jedenfalls vermeintlich.

Nach fast 5 Jahren Beschäftigung mit dem Thema, komme ich immer mehr zum Schluß, daß der Begriff nicht mehr rettbar ist. Genauso wie einige Jahre zuvor der Begriff Multimedia sich zu einem Sammelsurium an allen möglichen und unmöglichen entwickelte, was sich jedoch hinter einen vermeintlich hippen und gut verkäuflichen Begriff verstecken konnte, so ähnlich, aber leider vollkommen invers entwickelte sich der Gebrauch des Begriffes Barrierefreiheit.
Je häufiger er verwendet wird, um so weniger steckt da wirklich drin. Der Begriff wird als leere PR-Hülse verwendet um etwaige Kunden aus dem öffentlichen Dienst zu ködern; aber statt einer Unmenge von Features, kriegt der Kunde lediglich eine höhere Rechnung für eine vermeintliche barrierefreie Alternativrepräsentation in Text.

Das die falsche Verwendung des Begriffes Barrierefreiheit und die falsche Interpretation darauf was es bedeutet, nicht nur aus niederen Beweggründen erfolgt, sondern auch bei bester Absicht, erlebte ich erst letzte Woche wieder im Rahmen einer Pressemeldung für den Webkongress Erlangen.

Dabei wurde eine von uns vorbereitete Pressemeldung an eine andere Redaktion weitergegeben. Folgender Textabschnitt war das Original:

Barrierefreiheit ist heute neben klarem Design und übersichtlichen Strukturen eines der wichtigsten Qualitätsmerkmale für Internetauftritte. […] Das Primat der Barrierefreiheit führt dabei zu einer zeitsparenden und kostengünstigeren Administration und zu mehr Interaktivität, was wiederum eine größere Aktualität zur Folge hat. […] Was können Anbieter von Webauftritten also tun, um insbesondere im Öffentlichen Dienst die Umsetzung der Barrierefreiheit zu optimieren?
[…]

Aus dem Abschnitt wurde dann dieses gemacht:

Wie können Internetauftritte besser an die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen angepasst, und so barrierefrei gestaltet werden?
[…]

Man achte darauf, daß im Original nirgends, an keiner einzigen Stelle des gesamten Textes, irgendwo das Wort Behinderungen auftaucht!
Trotzdem wurde dieses Wort eingefügt und alle anderen Aspekte und Teilsätze als unwichtig oder falsch gedeutet und verworfen. Und dies, wie oben gesagt, bei besten Absichten der zuständigen Redakteurin.

Der Schluß ist so frustrierend, wie fatal: Auch nach Jahren der Mühen, nicht nur von mir, sondern auch von anderen Kollegen, von Initiativen und Aktionsbündnissen, steckt trotzdem noch immer in den Köpfen die Vorstellung, daß Barrierefreiheit gleichzusetzen sei mit Behindertenfreundlichkeit.
Dem scheint nicht beikommen zu sein!
Andere Aspekte werden nicht nur nicht gesehen, sie werden auch noch als falsch erachtet.

Der Begriff ist verbrannt. Oder noch nicht ganz: Um es mit den Worten von Joe Clark (in Antwort zur Neufassung der WCAG) zu sagen:
Zur Hölle damit!

Der Begriff war bereits bei seiner Einführung vorgeprägt. So wird der Begriff der Barrierefreiheit im Bausektor hauptsächlich dazu verwendet, bauliche Maßnahmen zu beschreiben, die auch Behinderten den leichteren Zugang zu ermöglichen. Doch den Aspekt der Wirtschaftlichkeit oder konkreter gesagt, die der Kostenersparnis und Nachhaltigkeit von Barrierefreiheit gibt es in der Bauwirtschaft in Zusammenhang mit Barrierefreiheit eigentlich nicht. (Sieht man mal von Evaluationen ab, in denen gezeigt wurde, daß bauliche Maßnahmen für Behinderte zu einem Zeit- und damit Kostengewinn für alle führten).

Dementsprechend ist es auch naheliegend, wenn auf kommunaler Ebene Barrierefreiheit immer mit höheren Ausgaben gleichgesetzt wird und nur als eine sozialpolitische Maßnahme für Behinderte gesehen wird:
Wenn der alterwürdige Baureferent jahrelang sagt, daß Barrierefreiheit zu diesen und jenen Mehrausgaben führt, wird man wohl kaum einen jungen Spund, ähm, pardon, dem neuen Internetbeauftragten glauben, der genau das Gegenteil behauptet!
Der kann doch keine Ahnung haben. Erst recht nicht, wenn die große Internetagentur vor Ort ebenfalls was anderes sagt.

Was ist aber die Alternative zum Begriff Barrierefreiheit?
Barrierearm? Wurde in der Tat versucht. Auch von mir selbst. Etwa für 4 Tage. Armut läßt sich nicht verkaufen. Auch wenn es inhaltlich positiv ist.
Man stelle sich einfach die Situation vor, wie dann die Pressemeldungen aussehen werden; die ohnehin oft gekürzt werden (und zwar von denselben Leuten, für die oben genannte dumme Formel gültig ist).

Die Website XYZ ist barrierearm.

Das provoziert doch geradezu, daß man das durch den Kakau zieht:
Eure Website ist so arm(selig), die kann sich nichtmal ordentliche Barrieren leisten. Hahaha..

Ich plädiere für die Nutzung des Begriffes Zugänglichkeit.
Dieses kommt auch dem englischen Accessibility näher.

In dem Wort steckt natürlich auch noch der Gedanke drin, daß der Zugang für -zum Beispiel!- Behinderte vorhanden ist. Doch ebenso wird oft auch der Satz Zugang für alle verwendet, wenn es um (nutzbare oder/und kostengünstige) Internetzugänge für verschiedenste Leute geht.

Ob und inwieweit dieser (nicht unbedingt neue) Vorschlag sinnvoll ist, ist natürlich eine andere Frage.
Eigentlich ist der Zug schon abgefahren. Die Medien und Redaktionen haben es als Keyword oder als Tag für eine wie auch immer geartete, mehr oder minder nette Sache aus der IT abgelegt.
Etablierte Keywords, Namen und Begriffe sind nun mal was wert und bleiben ebenso leicht haften, wie eine falsche Interpretation.

Oder etwa nicht?
Beispiel Firefox: Der Name, den eigentlich jeder kennt, obwohl er eigentlich vorher unter 3 andere Namen (Mosaic, Netscape, Mozilla) eingeordnet war?

Oder ist das alles Quatsch und es wird sich schon irgendwie einrenken, sofern nur weiterhin gut genug aufgeklärt wird?

Man bedim len?
      (Wohin gehen wir?)